Tuesday, April 1, 2014

Das Fass ohne Boden (2)

- Die Situation der Tochter

Mit meinem ersten Post (Das Faß ohne Boden 1) über die Schulsituation unserer Tochter hatte sich meine Frustration tatsächlich etwas beruhigt. So sehr, dass hier mal wieder sage und schreibe 12 Tage lang nichts passiert ist. ;O) Heute dann aber wieder sah ich rot, die Alarmglocken schrillten in meinem Kopf und schnaufend wie eine Dampfwalze  verließ ich das Schulgebäude .... naja, fast jedenfalls. Ganz so dramatisch war es nicht, aber es klingt gut. 

Wie ist nun die aktuelle Situation der Tochter? Sie geht auf eine sogenannte "Friskola", also keine staatliches, sondern eine der vielen privaten Schulen.
Grundsätzlich sind wir hier überhaupt nicht gegen staatliche Schulen, es ist nur leider so, dass unsere Heimatkommune unter aktueller Führung den Schwerpunkt auf Unternehmen und Fußballarenen und weniger auf Kindergärten und Schulen legt. Die Gruppen der kommunalen Kindergärten bersten mit oft mehr als 22 Kindern, die Grundschulen befinden sich in einem erbärmlichen Zustand, "unrentable" Schulen wurden ohne Rückshicht auf deren fantastisch umgesetztes Konzept geschlossen, statt sie zu stärken, und personalmäßig ist man ebenfalls unterbesetzt. Dafür wartet man mit großen Schülerzahlen und Schulalltag nach Mindestanforderung auf. Irgendwie war ich nicht bereit, erstens, mein Kind dem auszusetzen, zweitens, solches Verhalten zu unterstützen.

Dank der Absage durch die Deutsche Schule suchten wir also händeringend nach einer Alternative und ich klapperte verschiedene Schulen in Stockholm selbst ab. Leider waren die kommunalen dank des starken Geburtenjahrgangs 2007 voll und da das Vorschuljahr nicht verpflichtend ist (also noch im Kindergarten verbracht werden kann), gab es natürlich auch keine "Platzgarantie". Wir bekamen schließlich einen Platz an einer englischsprachigen Schule angeboten und da wir Englisch tagtäglich zuhause sprechen (der Herzallerliebste und ich) und die Tochter Englisch ohne Probleme versteht, dachten wir: naja, wenigstens wird ihr Englisch dann auch in den aktiven Sprachgebrauch gebracht.
Wir schauten uns die Schule an und Vorteile gegenüber den anderen waren Klassen, die auch nach dem Unterricht in der "Fritids" eine Einheit bildeden, zwei Lehrer (Englisch und Schwedisch), die sich den Unterricht gemeinsam teilen und ein Fritidslehrer, der auf dem Kernunterricht aufbauende Aktivitäten mit den Kindern durchführt. Anders als in der deutschen Schule, die nach deutschen Lehrplan unterrichtet (der die akademischen Anforderungen des schwedischen übersteigt) wir hier nach schwedischem Lehrplan unterricht, allerdings bilingual. Sprich, der Englisch-Lehrer spricht Englisch, die Schwedisch-Lehrerin spricht Schwedisch. Wir haben dieses Konzept auch in dem Wissen gewählt, dass wir wenn möglich nach einem Jahr auf eine andere Schule wechseln. Die Kernzeit von 9 Uhr bis rund 13 Uhr, danach Fritids mit organisiertem Programm bis ungefähr drei. Die Schule bestach nicht durch Schönheit, im Vergleich aber durch Übersichtlichkeit und ein akzeptables Maß an Instandhaltung sowie einen netten Schulhof. Von Vorteil auch, dass in der Schule morgens Frühstück angeboten wird, was die Tochter und ich eigentlich regelmäßig nutzen, da alle unsere Jungs im Kindergarten essen können und wir alle so etwas schneller aus dem Haus sind. Soweit so gut. Tatsächlich gehören diese Sachen nach wie vor zu den Pluspunkten der Schule.
Die Probleme fingen an, als meine deutschen akademischen Vorstellungen mit einer nicht konsequent umgesetzten schwedisch/anglo-amerikanischen Pädagogik in Konflikt gerieten. Also in meinen eigenen internen Konflikt, nicht in einem offenen ausgetragenen. Momentan kann ich an der Situation nämlich nichts ändern und ich will dem Kind ja nicht das Leben zur Hölle machen.
Nach dem schwedischen Schulprinzip muss Schule kostenfrei sein, sodass alle Materialien von der Schulge gestellt werden (inklusive Farbe, Stifte, Papier, Scheren, Kleber, usw.). Das "Unterrichtsmaterial" besteht in der Konsequenz aber leider dann auch aus zusammenkopiertem Material, was ich bei Grundschülern grundsätzlich noch nicht für vorteilhaft halte - der Übersichtlichkeit wegen. Dazu kommt, dass eine grundsätzliche Strukturierung nicht zu erkennen ist. Die liegt nämlich dann beim Lehrer und ist ohne Stütze eines kompletten Buches natürlich schwieriger zu gestalten (mehr Arbeits- und Zeitaufwand in der Vorbereitung). Außerdem liegt das Hauptgewicht auf einer Art Sachkundeunterricht, der nicht frontal gegeben wird, sondern wann immer möglich in Gruppenarbeit stattfindet. Es werden also eifrig veranschaulichende Wandbilder in unterschiedlichsten Ausformungen erstellt, usw. usw. Nebenher sollen auch Zahlen/Rechnen bis 20 und Schreiben/Lesen unterrichtet werden. Ist der Sachkundeunterricht noch halbwegs strukturiert, fängt da das Chaos an. Ich habe mich fürchterlich geärgert, dass mein Kind tagtäglich schnipselt und klebt, aber kaum schreibt. Schreiben dürfen Schüler üben, die mit ihren Projektarbeiten fertig sind. Nicht nur freiwillig, es kontrolliert/hilft offensichtlich auch keiner.
Dazu kommt das Problem mit der Struktur. Derzeit hat das Kind noch Schwächen mit drei bis vier Buchstaben: T, R, P und W (beim Lesen). Sie hat aber schon gefühlte 100 Mal A, B, C, usw. geübt. Derzeit ist den Lehrern mal wieder eingefallen, dass man ja Zahlen tatsächlich auch SCHREIBEN üben muss, um sie zu können. Also sind wir wieder bei den Zahlen 1 bis 10. Das Lernen des ABCs scheint auch eine Hürde zu sein, die kaum zu bewältigen ist. Also üben wir wann immer ich oder der Herzallerliebste kann,  zuhause. Heute habe ich wieder mal die Schulmaterialien in der Schule kontrolliert (eine Schublade, wo alle fertigen und unfertigen Meisterwerke abgelegt werden).... kein Mensch achtet darauf, dass das Kind angefangene Arbeitsblätter auch beendet. Kein Mensch achtet darauf, was wie in dieser Schublade landet.  Und da es ja keine Hausaufgaben geben darf (einmal in der Woche, übers Wochenende und das ist im Vergleich schon viel, ehrlich!), bleiben die Arbeitsblätter also unfertig in der Schublade liegen. Mitnehmen, so hat man mir erklärt, darf ich sie allerdings auch nicht. GAAAAAAAAAAAAAAAAH. Im Schreibheft (mit Linien) hat auch keiner kontrolliert, die Schreibübungen des Schuljahres erstrecken sich auf die Buchstaben A,B,C!!! Sicheres Rechnen im Zahlenraum über 10 - eine Hausaufgabe mit Additionsaufgaben gab es bisher.
Ich bin ja gar kein fundamentalistischer Befürworter von Frontalunterricht und  Druck, dass die Kinder nach einem Jahr Lesen, Schreiben und Rechnen müssen. Im Gegenteil, mich begeister dieser dem deutschen System so gegenläufige Ansatz, der hier grundsätzlich vorherrscht und den ich vom pädagogischen Grundprinzip her für wesentlich besser halte, als das ständige deutsche Bestreben, alle Kinder genau gleich zu machen.  Aber dieses dauernde Chaos ist unerträglich. Warum ist das also so?
Zum einen ist dieses ganze Vorschuljahr ein einziges Konstrukt. Man hat bei seiner Einführung spezielle Vorschullehrer ausgebildet, setzt diese aber eigentlich nicht ein. Stattdessen werden normale Grundschullehrer eingesetzt, die eigentlich nicht so richtig wissen, was sie machen sollen (wenn man Glück hat). Zum Beispiel:
Eine unserer Kindergartenbetreuerinnen ist Vorschullehrerin und Erzieherin. Der zuständige Betreuer Grundschullehrer/ Erzieher mit Lehrberechtigung bis Klasse 4.
Unser Sohn liest, kann das ABC, und rechnet mit Zahlen bis 20. Das ist natürlich auch ein individueller Unterschied zwischen unseren Kindern, aber es spricht auch für das Angebot des Kindergartens, dort hat er es nämlich gelernt. Dort wird mit den 5-jährigen genau das gemacht, was eigentlich in der Vorschulklasse passieren sollte (Immerhin 18 in der Gruppe). Die beiden verantwortlichen Erzieher sprechen sich ab, bereiten gemeinsam vor, und achten auf die Bedürfnisse der einzelnen Kinder. Diese beiden Erzieher haben eine fundierte pädagogische Ausbildung und  können auf jahrelange Erfahrung zurückgreifen. Diese Erzieher werden durch den Arbeitgeber (auch hier ein freistehender Kindergarten) in der Qualität kontrolliert. Sie werden weitergebildet. Sie tauschen sich untereinander aus. Es wird an ihrem Arbeitsplatz erwartet, dass sie ihren Job Ernst nehmen. Was bitte passiert also in dieser Grundschule auf einmal?
Ich habe nicht gefragt, aber ich vermute starkt, dass der Englisch-Lehrer keinen Abschluß als Grundschullehrer hat - zumindestens keinen schwedischen. Die Schwedisch-Lehrerin ist neu und jung, sie kann ich mit mangelnder Erfahrung entschuldigen, denn tatsächlich war alles etwas strukturierter und angepasster, als sie alleine für die Klasse verantwortlich war. (Der Englisch-Lehrer befand sich im Urlaub, wieso darf der das eigentlich, mitten im Schuljahr?????). Vom Anforderungsniveau hätte sie aber durchaus doch etwas höher stapeln dürfen. Das lässt mich schon mal an der Schulleitung zweifeln. Warum wird nicht auf die Qualität des angestellten Personals geachtet? Warum wird der Unterrichtsinhalt nicht kontrolliert/vorgegeben? Warum kann man sich mit seinen Bedenken nicht an das Schulamt wendegn (Antwort: aufgeweichte Regeln).
Der Grundgedanke ist, dass alle Kinder mitgezogen werden sollen und tatsächlich hat das lange Zeit in diesem System wohl auch geklappt. Aber da waren Leher gut bezahlt, gut ausgebildet und die Vorgaben waren genau und deren Befolgung wurde offensichtlich kontrolliert. Oder es herrschte grundsätzlich eine andere Vorstellung von Lehren/Lernen.  Jetzt wirkt zum Beispiel das Schulamt (skollverket) vollkommen unfähig, irgendetwas bis auf weitgefasste Rahmenbestimmungen durchzusetzen.
Früher waren nicht nur auf dem Papier zwei bis drei Lehrer in der Klasse, sondern diese waren tatsächlich anwesend. Der Herzallerliebste hat (vor rund 20 Jahren) eine Weile als Assistenz-Lehrer gearbeitet. Nach seiner Darstellung waren Aufgabenverteilung, Anforderungen und Absprache vorhanden, man schaffte es (mit durchaus unorthodoxen Mitteln) tatsächlich, die schwachen Kinder abzufangen, während die Leistungsstarken weiterlernen konnten. 
Heute sollen die Kinder in der 1. Klasse Schreiben, Lesen,  im Zahlenraum bis 100 rechnen .... wenn die Grundlagen schon nicht gegeben sind, worauf soll man in Klasse 1 bitte aufbauen? Für viele Kinder wird das doppelter Stress ... oder sie lernen es eben gar nicht. Und dann wundert man sich, dass die Pisa-Ergebnisse lausig sind?? Kann nicht sein.
Was ich erlebe ist ein vormals brilliantes Schulsystem (!!!), das ausgehöhlt und sinnentleert wurde - aktiv. Man hat grundsätzliche Regelungen zur Funktion gelockert, hat die Struktur bis zur Unkenntlichkeit verwischt und halbgare Neueinführungen gemacht, ohne nach einem wissenschaftlich-pädagogischen Grund zu schauen. Ehrlich, man könnte brüllen vor Verzweiflung. (Das muss in Fett-Schrift sein, man kann es gar nicht genug betonen.)

Ich will versuchen in einem dritten Teil ein paar der Änderungen in den letzten 10 Jahren zu recherchieren und darzulegen, aber das ist eine relative umfassende Aufgabe, es mag also etwas dauern. Aber ich bin es so leid, dass keiner (außer den Pädagogen hier, aber auf die hört keiner) das laut und deutlich sagt. Statt dessen versucht man den Leuten weiß zu machen, dass ja alles nur halb so schlimm sei und mit ein paar glanzvollen oberflächlichen Änderungen sei alles ganz schnell zu retten. Es ist, also ob Schweden in den letzten Jahre den eigenen Weg verloren hätte. Eigentlich ein Drama.

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